Die Sexualmedizin hat eine eher junge, aber auch eher cis-männlich geprägte Geschichte. Wir können den deutschsprachigen Bogen von Sigmund Freud über Magnus Hirschfeld zu Volkmar Sigusch spannen. International gibt es (gefühlt?) mehr weibliche* Forschende in der Sexualmedizin, hier spreche ich zum Beispiel von Virginia Johnson, Rosemary Basson und Peggy Kleinplatz.
Die Sexualmedizin beschäftigt sich mit der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung sexueller Störungen und ist damit eng mit der Sexualtherapie verbunden. Viele Fachgebiete überschneiden sich hier: die Humanmedizin, Sozialwissenschaften, Psychologie und Psychotherapie, Biologie und Ethik.
Aktuell gibt es in meiner Wahrnehmung zur Entwicklung des Faches eine Betonung des Embodiment-Ansatzes, der die „Verkörperte Sexualität“, nach dem Wahrnehmung und Bewusstsein immer in Wechselwirkung mit einem Körper besteht. Daraus ergibt sich der therapeutische Ansatz des Sexocorporel. Michael Sztenc ist hierzulande ein verdienter Kollege.
Ein weiterer guter therapeutischer Ansatz ist die Systemische Sexualtherapie, die auf die Beziehung und das Paar als Systeme blickt. Die Arbeit ist ressourcenorientiert und sieht das Paar als Expert*in für ihre Themen. Hier ist Ulrich Clement als herausragende Persönlichkeit zu nennen.
Wichtige weitere Ansätze sind das Hamburger Modell und die Syndyastische Sexualtherapie, die auf den Erkenntnissen von Masters und Johnson beruhen und von Uwe Hartmann/Volkmar Sigusch bzw. von Klaus Beier/Kurt Loewit entwickelt wurden.
Heraus sticht hier Melanie Büttner mit ihrer Arbeit zu Sexualität und Trauma, die für mich inspirierend und wertschätzend die Arbeit mit Sexualität vor dem Hintergrund sexueller Traumatisierungen erforscht und erarbeitet hat.
In all diesen Ansätzen und auch in der sexualmedizinischen / sexualtherapeutischen Literatur sind feministische Themen oder Thesen kaum vertreten. in meiner Wahrnehmung wird zwar zunehmend von den Binaritäten (männlich-weiblich / cis-trans / hetero-homo …) abgerückt, aber die feministischen Anliegen werden eher in den einzelnen Fächern verhandelt.
Ich möchte also dafür plädieren, feministisch-sexualmedizinische Themen in diesem, hiermit vorläufig definierten Fachbereich der „Feministischen Sexualmedizin“ zu versammeln und zu diskutieren. Von vorneherein will ich das als kooperatives Fach verstanden und gelebt wissen. Alle sind herzlich eingeladen, beizutragen. Du kannst deine Ideen, Kritik, Wünsche, Fragen, Forschungsideen hier oder auf Instagram @feministische_sexualmedizin mit mir und uns teilen.
Meine erste Ordnung der Themen dieses Fachgebiets werde ich wie folgt vornehmen: Lustdimension, Beziehungsdimension, Fortpflanzungsdimension. Diese Dimensionen sind wichtige Aspekte von Sexualität, die je nach Lebensphase unterschiedlich wichtig oder ausgeprägt sein können. Ebenso können alle Dimensionen in einer einzigen, monogamen, glücklichen Beziehung (z.B. „guter Sex, tolle Kinder, emotionale Nähe“) gelebt werden. Wahrscheinlicher ist es aus meiner, durch die berufliche Praxis vermutlich verzerrter, Perspektive, dass das ein fast unerreichbares Ideal ist. Vielleicht ist es hilfreich, die Dimensionen in verschiedenen Beziehungen zu betrachten und zu leben. Jede Kombination ist dabei denkbar, Überschneidungen wahrscheinlich. Welche Fragen und Themen kommen in der jeweiligen Dimension aus feministischer Sicht vor?
Lust
Anatomie und Physiologie: Wie sind Klitoris und weibliche Prostata aufgebaut? Was ist Squirting? Gibt es weibliche Ejakulation?
Weg mit dem Jungfernhäutchen! Lieber Corona vaginalis oder Kränzchen.
Mythen über die Lust/Appetenz von FINTA*, oder wie schwer es sei, einen Orgasmus zu erreichen. (Gender orgasm gap)
Körperbilder, Körperwahrnehmung, Objektifizierung weiblicher Körper
Sexuelle Praktiken sollten kein Ausdruck von Macht sein, jede*r sollte tun und lassen dürfen, was er*sie will. Vorschlag: Analverkehr als Norm.
Sprache ist mächtig: Z.B. Zirklusion anstelle von Penetration
Dürfen Feminist*innen BDSM-Praktiken mögen?
Pornographie und Masturbation als Feminist*in?
Beziehung
Die Ehe als Kapitalgemeinschaft
weibliche Sozialisation als versorgende, haltende, emotionale Person
Monogamie als soziale Norm
Stellenwert der Paarbeziehung in der Gesellschaft
Erfüllung emotionaler Grundbedürfnisse in Beziehungsnetzen
sexualisierte und häusliche Gewalt in Partnerschaften
Fortpflanzung
Verhütung sollte Männer*sache werden.
Schwangerschaftsabbrüche/Abtreibungen
Schwangerschaft und Geburt als Risikosituationen, besonders für BiPoc
Gender Care Gap
Finanzielle Benachteiligung von Gebärenden (Lifetime earning gap)
Versorgungsstrukturen (Kita, Schule, Institutionen)
Nicht-Monogamie und Elternsein
Übergeordnete Themen sind aus der Medizin die Probleme der Forschung, die menstruierende Personen zum Beispiel viel zu wenig beachtet, dass Frauen* nicht geglaubt wird, dass es deutliche Lücken im Bereich der Gendermedizin gibt, dass Themen von Trans*Personen kaum Berücksichtigung finden etc. Also die feministische Kritik an der Medizin und Psychotherapie allgemein, die hier anknüpft.
Das ist als unvollständige Ideensammlung, als Work in Progress zu verstehen. Ich freue mich über Erweiterungen. Finde @feministische_sexualmedizin auf Instagram oder schreibe mir eine Mail.
Wenn wir die Einflüsse patriarchaler, kapitalistischer, kolonialer Strukturen auf unsere Sexualität betrachten, kann es einem Angst und Bange werden. Wo wir doch eigentlich so emanzipiert sind und uns das Thema Feminismus vielleicht schon langsam ein bisschen auf die Nerven geht. Ich habe selbstverständlich dafür auch keine Lösung, ich bin aber der Überzeugung, dass Bindung und Beziehungen für uns Menschen lebenswichtig sind. Wir sollten sie pflegen und priorisieren. Wir dürfen alles prüfen, neue Wege und Ausdrücke finden und mehr zu uns selbst finden. Auch das ist feministisch.
Im kommenden Frühjahr wird es dazu ein Buch im Divana-Verlag von mir geben, in Kooperation mit vielen tollen Kolleg*innen.