Heute möchte ich vom diesjährigen Kongress 18.-19.11.22 unserer Fachgesellschaft berichten. (Wie immer übernehme ich für die Inhalte verlinkter Websites keine Verantwortung)
Preconference Workshops und Mitgliederversammlung
Den Beginn machte Dr. Alexander Korte (Oberarzt Kinder- und Jugendpsychiatrie der LMU, München) mit einem wirklich differenzierten Vortrag zum brisanten und kontroversen, aber aus wissenschaftlicher Sicht eigentlich ganz einfachen Thema der Binarität der Geschlechter: „Der kleine Unterschied und die Folgen: Warum es zwei Geschlechter gibt, aber kein drittes. Phylo- und ontogenetische Fakten zur Binarität der Geschlechter“.
Im Anschluss gab es verschiedene Workshops, ich habe mich für „Sexualität in der Psychotherapie/Interaktionelle Fallarbeit“ bei Dipl.-Psych. Jörg Steingen entschieden. Diese verhaltenstherapeutisch entwickelte Tool kann sehr schön zur Intervision oder auch in der Supervision genutzt werden. Schon in kurzer Zeit wurde hier ein kreativer, hilfreicher Prozess mit Selbsterfahrungsanteil angestoßen.
Zum Ende des ersten Tages fand die Mitgliederversammlung der DGSMTW statt. Hier wurde ich nach einer sehr spontanen Kandidatur zur Beirätin gewählt.
Hauptkongresstag
Am zweiten Tag hat die wunderbare Kollegin Dr. Melanie Büttner aus München den Eröffnungsvortrag zum Thema „Sexarbeit und Trauma“ gehalten. Hier sind die Hintergründe zum Vortrag zu finden. Bei Interesse an diesem Artikel melden Sie sich bei ihr. Als Kernbotschaft nehme ich mit, dass ein Sexkaufverbot nicht die Lösung ist, um Gewalt gegen Sexarbeitende zu reduzieren.
Dr. Christoph Ahlers (Sexualpsychologe) setzte die Reihe der interessanten Vorträge mit dem Thema „Surrogat-PartnerInnen in der Sexualtherapie mit Singles“ fort, bei dem er sich mit einem fachlichen Augenzwinkern mit dem Thema der „Orgasmusproduktion“, mit „inkompetenten Ejakulatoren“ und „qualifizierter Fachprostitution“ beschäftigte. Er unterschied hier zwischen Surrogat-PartnerInnen (zum Beispiel zur Behandlung soziosexueller Selbstunsicherheit) und Sexualassistenz und gab historische Einblicke. Ebenso beleuchtete er die Wirksamkeit dieser Therapieform sowohl in der ursprünglichen Form von Masters und Johnson sowie anhand von eigenen Kasuistiken.
Weibliche Sexualität
Frau Dr. Daniela Wetzel-Richter ist eine tolle, engagierte Kollegin, Oberärztin, Psychosomatikerin und Allgemeinmedizinerin, die sich hier mit der „genitalen Dauererregung der Frau (Persistend genital arousal disorder) mit unerwünschten Orgasmen“ beschäftigt hat. Grundlage dafür bildet die Anatomie der Klitoris inklusive der Genitalkörperchen, Innervation und Blutversorgung, die ja wesentlich mehr ist als nur der „Kitzler“. Unerwünschte Orgasmen können spontan beim Sport auftreten, beim Autofahren, in anderen Alltagssituationen, bei nicht-einvernehmlicher sexueller Stimulation, bei der Geburt oder beim Stillen.
Passend dazu besprach Dr. Laura Hatzler aus dem Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité die „Psychophysiologie der weiblichen Sexualantwort“. Die Methode der Messung der vaginalen Pulsamplitude als Erregungskorrelat ist eine diskutierte Forschungsmethode zur weiblichen Sexualantwort, die aber nicht sicher mit der subjektiven Erregung korreliert. Zudem stellte sie Hypothesen über den Zusammenhang zwischen körperlichen Erkrankungen wie chronischen Entzündungen oder Autoimmunerkrankungen und sexueller Lust vor. Das könnte für meine Arbeit klinisch relevant sein. Ein schönes Zitat möchte ich teilen: „only men have vaginal orgasms“ (Ellen Laan).
Nach der Mitagspause betrachtete Professor Dietmar Richter „Die Vulvodynie – aus gynäkologischer, psychosomatischer und sexualmedizinischer Sicht“ und betonte gleich zu Beginn die Bedeutung der Sekundärbehaarung („Schamhaare“) für die Lust der Frau. Auch bei der Vulvodynie (Schmerzen im Bereich der Vulva) ist das bio-psycho-soziale Modell grundlegend, um sie verstehen zu können. Er sprach sich dafür aus, dass alle Behandler:Innen ausreichende Kenntnisse der Anatomie der Klitoris und der weiblichen Prostata haben, um Patientinnen gut behandeln zu können. Die Vulvodynie wurde als Problem des „brettharten Beckenbodens“ eingeführt. Eine andere Betrachtungsweise ist die Vulvodynie als unbewusster Ärger oder unbewusste Angst. Hier könnte ein Zusammenhang zwischen Angst und muskulärer Anspannung des Beckenbodens bestehen. Dementsprechend sprach er sich für eine Kombinationstherapie aus Beziehungsaufbau zur Patientin, Magnesium zur Muskelentspannung, SSRI zur Veränderung des Schmerzgedächtnisses, Physiotherapie des Beckenbodens und (Paar-)Sexualtherapie aus.
Internet und neue Medien
Den letzten Block begann Frau Dipl.-Psych. Tabea Freitag aus Hannover von der Fachstelle Mediensucht (Return) mit dem Thema: „Auswirkungen von exzessivem Porno- und Cybersex-Konsum auf Sexualität und Partnerschaft“. Hier stand im Vordergrund, dass es eine Art „großer unethischer Menschenversuch“ (K.M. Beier) sei, der unreguliert stattfinde und deutliche Auswirkungen auf die Sexualität der mit Pornographie aufgewachsenen Kinder (Erstkontakt zu Pornographie wohl etwa bei 9 Jahren, mit 12 Jahren hätten schon 50% der Jungen Pornographie konsumiert) habe. Es bestünde ein Zusammenhang zwischen häufigem Pornographiekonsum mit frauenfeindlichen Einstellungen und aber auch Unzufriedenheit mit der eigenen Sexualität. (Unerwähnt bleibt beispielsweise, dass (soweit ich weiss) das Alter der Jugendlichen beim „ersten Mal“ sich nicht verändert hat und den meisten Jugendlichen der Unterschied zwischen Pornographie und realem Sex klar ist.) Minderjährige in Kontakt mit Pornographie zu bringen ist eine Form sexuellen Missbrauchs, eine strafbewehrte Handlung. Sie fasste zusammen: Pornokonsum fördere sexuelle Gewalt, gefährde die Beziehungsfähigkeit und berge ein hohes Suchtpotential. (Zudem möchte ich auf mein Video zu Selbstbefriedigung hinweisen und mich da vielleicht ein bisschen korrigieren in meiner Einschätzung zu Pornographiekonsum. Vielen Dank für diesen eher kritischen Beitrag, Frau Freitag!)
Wenn Menschen nicht finden, was sie begehren, begnügen sie sich damit, zu begehren, was sie finden
Guy Gebord
Dr. Anna-Carlotta Zarski, und Dr. Laura Wiemer stellten mit „Hello Better, Kranus Edera – Digitale Gesundheitsanwendungen in der Sexualtherapie“ vor. Leider konnte ich bei diesem Vortrag nicht mehr dabei sein. Den Rückmeldungen und Beschreibungen der KollegInnen entnehme ich jedoch, dass hier vielversprechende Ansätze von kompetenten Referierenden vorgetragen wurden.
Im letzten Teil wurden die DGSMTW-Senior-Professionals Prof. Dr. Dietmar Richter und geehrt.
Wie immer freue ich mich über Ihre und eure Rückmeldung.
Einblicke aus der letztjährigen Tagung sind hier zu finden.